Dieter Rübsaamen - Werkgruppen 1957 - 2007
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Im Rausch des Unsichtbaren

aus dem Katalog "Werkgruppen 1957 – 2007" von André Müller

Mitte der 1980er Jahre drehte Luc Bresson an der französischen Mittelmeerküste den Film „Le Grand Bleu – Im Rausch der Tiefe“ und schuf damit ein Meisterwerk über die Besessenheit eines Apnoetauchers, der das Unergründliche, das Unsichtbare des Meeres zu erkunden trachtete. In seine Lungenbläschen sorgsam eingelagertes O2 stand ihm als Mittel zur Verfügung diese Erkundung durchzuführen. Etwa zeitgleich stellte der in Bonn lebende Künstler Dieter Rübsaamen in einer Ausstellung sein Werk „So staubt sie nun dahin“ aus, ein OEuvre, das mittels einer Sauerstoffflasche der Kunst Atem einhaucht, um auch die letzten Geheimnisse ihrer Wirklichkeit aufzuspüren.

Wie ein roter Faden – beinahe von Bresson’scher rauschhafter Ausprägung – durchzieht diese Sehnsucht nach dem Unsichtbaren, Vielschichtigen, Realen, Möglichen und scheinbar Unerklärlichen das Werk von Rübsaamen. Er hat dabei über die Jahrzehnte eine sehr ausgeprägte Fähigkeit entwickelt, dem Unsichtbaren zu lauschen, Elemente und Phasen dieser oftmals im Verborgenen ablaufenden Prozesse aufzunehmen und in Bildern darzustellen. In seinen Werkgruppen(1) und seiner breit angelegten Sammlung bearbeiteter und unbearbeiteter Fotos, die in dieser Ausstellung erstmals gezeigt werden, wird die Wirklichkeit als Realität erkundet und das Mögliche als Wahrnehmung dargestellt. Die Erfahrung des Ungewissen interpretiert Rübsaamen dabei als eine Konstante der menschlichen Existenz.

Eine Werkgruppe – mit Sicherheit die komplexeste – führt dabei die unterschiedlichen Aspekte der fünfzigjährigen Schaffensphase von Rübsaamen auf eindrucksvolle Weise zusammen. Anfang der 1990er Jahre besuchte er in Genf die Versuchsanlagen des Conseil européen pour la recherche nucléaire (CERN). Dieser Besuch eröffnete Rübsaamen vollkommen neue Dimensionen. Hier erlebte seine Suche nach dem Unsichtbaren, die Erfahrung unsichtbarer Prozesse und die Darstellung ihrer Erkenntnisse und Innenansichten ihren konzeptionellen und visuellen Durchbruch. In der Finsternis der Versuchsanlagen wurde gleichsam alles deutlich. Und der Weg vom Urknall zum Bewusstsein war nicht mehr weit. Rübsaamen hatte bereits Ende der 1950er Jahren im Stil des Informell malerisch die Suche nach dem Verborgenen, dem Unsichtbaren begonnen. Vorhandene, vorgefundene Strukturen wurden aufgebrochen, unterschiedliche Informationsschichten mehrfach übereinander gelegt und so – gleichsam in für den suchenden Sisyphos präpariertem Gelände – neue Kontexte erschlossen. Nutzte er zunächst Einkaufsnetze, dann Druckplatten von Adressiermaschinen, Gummitücher, Röntgenaufnahmen menschlicher Körperteile – mithin menschliche Befunde - so waren es später Röntgenaufnahmen von Elementarteilchen (Elementarteilchenschauer), um „dem Unsichtbaren zu lauschen“, wie Charles Rump es einmal beschrieben hat. Mitte der 1980er Jahre gründete Rübsaamen die Freie Hochschule für Emotionstechnik (FHE) und schuf als deren Produkt gemeinsam mit Thomas Ungar den „Emotionalen Urmeter“. Dies geschah, als sich in ihm die Erkenntnis festgesetzt hatte, dass neben der aktiven Suche nach Lebens- und Organisationsspuren auch und insbesondere Emotionen unser Gedächtnis, unsere Wahrnehmung infiltrieren und somit unser Urteilsvermögen nachhaltig beeinflussen. Mit Bezug zum Tractatus Logico-Philosophicus von Ludwig Wittgenstein stellen die Rübsaam’schen Werke dieser Zeit bearbeitete, chiffrierte Sachverhalte dar: Bilder sind zu lesen und Worte anzuschauen. Die Worte ziehen sich dabei hinter die Bilder zurück. Wissenschaftliche Erkenntnisse untermauern heute, was für Rübsaamen schon längst bekannt gewesen ist: Der Mensch liest, das Gehirn denkt in Bildern. Das Zeichen gewinnt folglich als Stilmittel an Ausdruckskraft, um dem Vorgang des Lauschens einen bildnerischen Ausdruck zu geben. Rübsaamen ist darin Ecke Bonk ähnlich, der sich mit Zeichensystemen als interdisziplinärem Ausdruck von Kunst, Naturwissenschaft, Typographie und Philosophie beschäftigt und damit Bedingungen und Zusammenhänge kultureller Leistungen reflektiert. Als selbsternannter Typosoph bemüht sich Bonk dabei um die modellhafte Darstellung dieser Systeme. Es ist das Spannungsverhältnis von Repräsentation und Realität, das Rübsaamen Zeit seines Wirkens beschäftigt hat und auch weiterhin beschäftigen wird. Und es ist die Vieldeutigkeit von Zeichen, wie das Bild „Tschechow und Tolstoi 1903 auf der Krim, ein Tierchen betrachtend“ (S. 19) veranschaulicht. Zwei Figuren werden umrissen: Tschechow schaut resigniert, Tolstoi strotzt vor Kraft. Erst kürzlich ist die Werkgruppe „Emergente Systeme – Interaktionen“ entstanden, deren Kerninhalt Rübsaamen schon länger umtreibt. Sie handelt von Interaktionen und emergenten, komplexen, durch das Zusammenwirken ihrer Einzelteile bestimmten Systemen, mithin der Frage, wie sich Kontexte und Strukturen sowie ihre Elemente selbst organisieren. Rübsaamen spürt diese inneren Zusammenhänge und Verbindungen auf und stellt sie bildnerisch dar, ganz im Sinne der von Paul Virilio thematisierten Ästhetik des Verschwindens. Rübsaamen hat 2004 das Prinzip der Selbstorganisation in seiner Namibia-Werkgruppe (S. 41) vorzüglich zum ästhetischen Ausdruck gebracht. Dünen stellen als granulare Beispiele emergenter Systeme ein Naturphänomen dar, das durch die komplexe Interaktion ihrer Bestandteile, in diesem Fall der Sandkörner, entsteht. Die Elementarteilchenphysikerin und Philosophin Brigitte Falkenburg macht schon seit geraumer Zeit darauf aufmerksam, dass die Frage nach der Realität einen Bezugspunkt erfordert, der außerhalb des jeweiligen Fachbereiches, hier der Physik, liegt. Um nun die aufgebrochenen Strukturen, das erlauschte Unsichtbare umfassend zu deuten und zu erklären, bedürfe es der Sprache – so die landläufige Meinung. Mit der Sprache verhält es sich allerdings nicht so, wie man gemeinhin annimmt. Wittgenstein schließt seinen Tractatus mit dem Satz „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Diesen Satz stellt Rübsaamen in Frage, er durchbricht dieses Schweigen, indem er mit seinen Bildern ein Medium schafft, mit dem sehr wohl jene Kontexte artikuliert werden können, mit denen Sprache überfordert zu sein scheint. Diese immerwährende Umkreisung des anderen Zustands, diese niemals aufhörende Sehnsucht – mithin der nagende Zweifel – hat Rübsaamen in der Werkgruppe „Azurene Einsamkeit“ verbildlicht. Ahnung ist somit alles, der Rest ist rätselhaft. Rübsaamen resigniert allerdings nicht, sondern richtet den Blick über die eigene Kultur hinaus. Er wählt dabei den Umweg über Asien (S. 43), um jene mittels Sprache scheinbar unbeschreibbaren Zustände besser verstehen und mit seiner Bildsprache adäquat darstellen zu können. Denn, so François Jullien „la grande image n’a pas de forme“. In der asiatischen Kunst wird nämlich das Postulat der Vollendung aufgehoben; es herrscht dort vielmehr eine grundlegende Offenheit vor, die es nicht nur ermöglicht, eine neue Welt kennenzulernen, sondern die alte Welt neu zu verstehen. Kommen wir noch einmal kurz zurück auf die Bilder aus der CERN-Werkgruppe. Sie bilden den Meilenstein der Rübsaam’schen Kommunikation jenseits der Sprache. Der Kunsthistoriker Volker Adolphs bezeichnet folglich Rübsaamens Bilder auch als gemalte Sprachkritik. Das Verständnis von Wirklichkeit und deren Aneignung in verschiedenen menschlichen Dimensionen sei dessen Ziel. Kunst sei Erkenntnis, nicht Illustration. Das erklärt auch die oft vorhandenen Leerstellen in den Werken Rübsaamens – die jeweils freie Ecke am rechten oberen Bildrand. Diese Leerstellen bilden Regionen
jenseits des Benennbaren, des Bildhaften.

Häufig beziehen sich die Rübsaam’schen Werke auf den Wittgenstein’schen Tractatus. Sie versinnbildlichen auch die Arbeiten des Linguisten Manfred Bierwisch (S. 21), der – seinerseits wiederum mit Bezug zu Wittgenstein – durch seine Arbeiten aufzeigt, wie kognitions- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen im Sinne einer Sprachphysik zusammenwirken können. Für beide ist der Satz des Tractatus: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ von zentraler Bedeutung. Dass es Formen und Grenzen der Kommunikation jenseits der Sprache gibt, belegt Bierwisch evolutionsbiologisch, Rübsaamen künstlerisch. Seine Werke sind in Grenzbereichen angesiedelt: Interessant sind diejenigen Bilder, die so sehr zwischen der inneren und der äußeren Wirklichkeit des Menschen stehen, dass sie der einen nicht mehr als der anderen Seite zugerechnet werden können. Das sind die Bilder, welche die Wissenschaften von der Wirklichkeit entwerfen, die sinnlich gar nicht wahrnehmbar ist. Es sind die theoretischen Modelle, die sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der unsichtbaren Wirklichkeit machen, von Nanostrukturen, von Atomen und Molekülen oder vom Kosmos. Dieses sind zwar wissenschaftliche Entwürfe von Menschen, zeigen aber dennoch etwas Wirkliches. Ähnlich wie sich nur in sprachlichen Sätzen der Sinn und die Bedeutung von Gedanken zeigen, zeigen diese theoretischen Modelle eine für das Auge unsichtbare Wirklichkeit. Ebenso interessant sind Metaphern, Symbole und Gleichnisse, die nicht ohne Bilder gedacht werden können. Ohne sie sind bestimmte Gedanken nicht sagbar. Sie gehören scheinbar gar nicht zur Wirklichkeit, existieren aber doch in der menschlichen Denk- und Gefühlswelt.

Die Werke Rübsaamens sind gekennzeichnet von einem thematischen Dreiklang: Er umfasst das Verhältnis von Realität und ihrer Wahrnehmung, der Bildmacht der Sprache und der Sprachkraft der Bilder sowie der Versinnbildlichung und Erfahrbarkeit unsichtbarer Prozesse. Sie stellen Versuche dar, die Erfahrung des Ungewissen – nicht nur in der Kunst – als eine Konstante der menschlichen Existenz zu interpretieren. Qu’est-ce que l’avenir nous apportera? Man darf gespannt sein auf die nächsten coups artistiques von Dieter Rübsaamen

André Müller

     
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